Nio startet durch

10.10.2022 von Thomas Geiger

Nio-Start in Deutschland und erster Fahrbericht des Nio ET7

Nio startet mit drei Premium-Stromern in ausgewählten Märkten in Europa, darunter Deutschland. Den Anfang macht die Oberklasse-Limousine ET7. Wir durften das Flaggschiff der Chinesen schon mal fahren und haben weitere Details zum Marktstart des elektrischen Trios der Marke.

Als Tesla-Konkurrenten sehen sie ihn alle und manche stempeln ihn sogar schon zum „Tesla-Killer“. Denn binnen acht Jahren hat der chinesische Milliardär William Li seine Firma Nio zum wahrscheinlich aussichtsreichsten Start-Up aus der Volksrepublik gemacht. Nachdem er zuhause seit vier Jahren Autos verkauft und mittlerweile auf eine Flotte von 250.000 Fahrzeugen schauen kann, wagt er jetzt den großen Schritt ins Ausland und will sich nach einem bescheidenen Vorspiel im Elektro-Musterland Norwegen ab sofort auch bei uns mit den Besten messen: „A New Horizon“ heißt die Kampagne, mit denen er den Fahrern von Mercedes EQS, dem Porsche Taycan, des kommenden BMW i7 und natürlich des Tesla Model S neue Premium-Perspektiven bieten will und dafür noch im Oktober sein Flaggschiff ET7 ins Rennen schickt.

Spitzenwert bei der Aerodynamik

So fortschrittlich und erfolgreich diese Autos auch sein mögen, sehen sie gegen den ET7 plötzlich ganz schön alt aus. Das liegt nicht nur am eleganten Design des 5,10 Meter langen Fließhecks, das mit einem cW-Wert von 0,208 fast so gut ist wie der Mercedes EQS und dabei sehr viel filigraner auftritt. Und es liegt auch nicht an der Kabine, die unter dem doppelten Panorama-Dach erstens geräumiger ist als bei den deutschen Premium-Stromern und zweitens die bislang beste Balance findet zwischen der fast schon kargen Nüchternheit eines Tesla und der digitalen Opulenz eines Mercedes.

Sondern es liegt vor allem an dem schier unbeirrbaren Glauben an den Fortschritt, den Nio im ET7 serienmäßig installiert – und sich eine ganze Menge kosten lässt. Im Kleinen ist das Nomi, der charmante Knubbel auf dem Armaturenbrett, der viel mehr ist als eine Sprachsteuerung. Nomi gibt dem Bediensystem ein Gesicht, lernt die Insassen mit jedem Kilometer besser kennen, schnappt ständig neue Worte auf und bietet neue Hilfe an, um so über die Zeit zu einem digitalen Kompagnon zu werden.

Sensorarmada fürs autonome Fahren

Und im Großen ist das die Elektronik zum autonomen Fahren. Denn auch wenn der ET7 aktuell nicht mehr kann als jeder Tesla und hinter dem Drive Pilot des EQS als erstem System für das so genannte Level 3 für echtes und vor allem legales freihändiges Fahren zurückfällt, hat er schon heute alles an Bord, was es sogar für völlig fahrerloses Fahren braucht. Anders als Tesla packt Nio nicht nur fast einen Dutzend hochauflösende Kameras in den ET7, sondern setzt auch auf fünf Radare, zwölf Ultraschallsensoren und verbaut sogar ein Lidar in den markanten Höckern über der Frontscheibe. Gleich vier Nvidia-Prozessoren installiert Nio im Kofferraum, die mehr Rechenleistung haben als 100 Playstations und pro Minute mehr Daten verarbeiten, als Netflix für einen überlangen Kinofilm in bester Qualität durch den digitalen Äther bläst.

Fast schon banal ist dagegen das Fahren – und auch das ist mehr als konkurrenzfähig. Eine programmierbare Lenkung, das adaptive Fahrwerk mit Luftfedern, die Empfindlichkeit des Fahrpedals und die Stärke der Rekuperation – all das verändert sich auf Knopfdruck und macht den Nio wahlweise zu einem gemütlichen Gleiter oder zu einem bissigen Fighter, der sich nicht nur bei den reinen Fahrleistungen, sondern auch beim Fahrgefühl mit manchem Sportwagen messen kann.

Alle Nios kommen mit Allrad nach Europa

Treibende Kraft sind dabei immer zwei E-Maschinen mit 180 kW im Bug und 300 kW im Heck, die so auf 480 kW kommen mit bis zu 850 Nm an allen vier Rädern reißen. Kein Wunder, dass der ET7 in 3,8 Sekunden auf Tempo 100 schießt und maximal immerhin 200 km/h rennen darf.

Wo der ET7 aber tatsächlich hinterher zu hinken scheint, ist bei den Akkus. Zwar ist für das nächste Jahr eine Feststoffbatterie mit aberwitzigen 150 kWh angekündigt, doch zunächst stellt Nio nur zwei deutlich kleinere Akkus bereit. Und die sind mit 75 bzw. 100 kWh für höchsten 445 bzw. 580 Kilometer Reichweite nicht nur am unteren Limit der Konkurrenz, sondern mit maximal 140 kW Ladeleistung und bestenfalls 30 bis 40 Minuten für die Ladung von 10 auf 80 Prozent sind sie obendrein auch noch vergleichsweise langsam.

Wechseln statt laden

Doch der erste Eindruck täuscht. Schließlich setzt Nio als aktuell einziger Hersteller auf den Akku-Wechsel und „lädt“ deshalb so schnell, wie Verbrenner tanken. Denn binnen fünf Minuten tauscht ein Roboter in einer Art Automaten-Garage den leeren Block aus und installiert einen frisch geladenen Akku. Einziger Haken an der Sache: Während es in China schon über 1.100 Wechselstationen gibt, stehen in Europa nur drei, von denen die einzige deutsche in der Nähe von Augsburg in Zusmarshausen gerade erst eröffnet wurde. Und selbst wenn in Berlin bald die zweite aufmacht, wäre Nio schon zufrieden, wenn es bis zum Jahrsende 20 auf dem Kontinent wären. Da mahlen die Mühlen in der europäischen und vor allem in der deutschen Bürokratie einfach langsamer als in China.

Kein Verkauf, nur Abo

Er sieht gut aus und fährt klasse, hat zukunftsfeste Technik, ein viel versprechendes Ladesystem und umgarnt den Kunden zudem mit der charmanten Nomi, die während der Fahrt auf Kommando sogar Selfies schießt – da lassen sich Kleinigkeiten wie der fehlender Frunk, der kleine Kofferraum mit der schmalen Kofferraumluke vor der starr montierten Rückbank oder das vergessene Handschuhfach gut verschmerzen. Doch zum Bestseller wird das dem ET7 vielleicht nicht reichen. Das weiß offenbar auch Firmenchef Li und will sei Flaggschiff deshalb gar nicht erst verkaufen, sondern nur im Abo anbieten, das je nach Laufzeit und Ausstattung zu stolzen Preisen ab etwa 1.200 Euro im Monat abgeschlossen werden kann. Der Clou: Dank der Wechselakkus können Kunden jederzeit flexibel monatlich auf ein größeres oder kleineres Batteriepaket wechseln, um entweder Kosten zu sparen oder von einer höheren Reichweite zu profitieren.

Gleiches gilt auch für die etwas kleinere Limousine ET5 (Vorstellung), die sich als Alternative zu Tesla Model 3 oder Polestar 2 versteht, genauso wie für das Oberklasse-SUV EL7 als Antwort auf BMW iX oder den Audi e-tron. Beide Modelle sollen übrigens ab ersten Quartal nächsten Jahres ausgeliefert werden.

All-inclusive-Service

Doch der Verzicht auf den klassischen Verkauf ist nicht der einzige Bruch mit den Traditionen unseres Kfz-Gewerbes. Denn statt auf Händler setzt Nio auf einen Online-Shop und die so genannten „Nio Houses“, von denen das erste jetzt bald in Berlin als Treffpunkt der Nio-Familie eröffnet und mehr Lounge als Geschäft sein will. Und wo sich andere Hersteller ein teures Werkstattnetz leisten müssen, hat Nio 14 Service-Partner ins Boot geholt, die der Kunde aber nie zu Gesicht bekommen wird. Denn wenn es Probleme mit dem Auto gibt, dann kommt ein Team zum Kunden, repariert vor Ort oder lässt einen Ersatzwagen da.

Nio-Event in Berlin 2022 - A New Horizon

Natürlich sind die Ankündigungen aller Start-Ups mit der gebührenden Vorsicht zu genießen. Doch auch wenn Nio den Mund bisweilen ebenfalls ziemlich voll genommen hat, hat Firmenchef Li gerade reichlich Rückenwind. Denn nachdem seine Firma schon mehr als einmal knapp am Konkurs vorbei geschrappt ist, meldet die Marke gerade einen Auslieferungsrekord – selbst wenn sie bei Tesla oder Porsche über knapp 32.000 Autos im Quartal herzlich lachen werden. Doch Li hat einen langen Atem. Den wird er allerdings auch brauchen. „Wir laufen hier einen Marathon und haben vielleicht gerade mal die ersten 1.000 Meter geschafft.“

Fotos: Nio

Quelle(n): Nio Newsroom

Weitere Infos zu den drei Nio-Modellen ET7, ET5 und EL7 in der Bildergalerie.

Technische Daten
Fahrzeugbezeichnung: Nio ET7 75 kWh Nio ET7 100 kWh
Fahrzeugbeschreibung: viertürige, fünfsitzige Oberklasse-Limousine
ANTRIEB
Antriebsart: Allradantrieb
Bauart: PSM an VA, ASM an HA
Leistung: 480 kW
Drehmoment: 850 Nm
BATTERIE & LADESTANDARD
Energieinhalt (brutto/netto): 75 kWh/— 100 kWh/—
Ladestandard AC: Typ 2 11 kW 3p
Ladestandard DC: CCS 140 kW
Ladezeit DC 150-kW-Ladestation 10-80 %: 30 min 40 min
Dauer Batteriewechsel: ca. 5 min
FAHRLEISTUNGEN
Höchstgeschwindigkeit: 200 km/h
Beschleunigung (0-100 km/h): 3,8 s
REICHWEITE & VERBRAUCH
Reichweite (WLTP): 385–445 km 505–580 km
Verbrauch (WLTP): 22,3–19,3 kWh/100 km 21,8–19,0 kWh/100 km
ABMESSUNGEN & GEWICHT
Länge x Breite (ohne Spiegel) x Höhe: 5,101 m x 1,987 m x 1,509 m
Breite (mit Spiegel): N/A N/A
Radstand: 3,060 m
Gepäckraum: 370 l
Frunk:
Leergewicht: 2.359 kg 2.379 kg
Anhängelast (gebremst/ungebremst): 2.000 kg/750 kg
PREIS & VERFÜGBARKEIT
Verfügbarkeit: DE: bestellbar; AT: vorerst nicht verfügbar
Deutschland: ab ca. 1.199 €/Monat ab ca. 1.319 €/Monat
Österreich: N/A N/A

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