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EAM 05/2024 - Oktober/November
In einem aktuellen Video der Elektroautovermietung Nextmove wird vor einer „verdeckten Gefahr“ von Elektroautos gewarnt. Laut diesem Video soll von fast allen E-Autos eine bislang unerkannte Stromschlaggefahr ausgehen. Was hinter dieser Meldung steckt, klären wir in diesem Artikel.
Der Aufruhr war (und ist immer noch) groß, als das Youtube-Video und die Pressemeldung von der Elektroautovermietung Nextmove am Freitag (22.10.2021) veröffentlicht wurden. In diesem Video warnt die Vermietung vor Stromschlägen mit einer Spannung von bis zu 150 Volt, die beim Laden von Elektroautos auftreten können. Wenn dem so wäre, hätten Elektrofahrzeuge tatsächlich ein großes Problem, denn solche Spannungen können lebensgefährlich sein. Die Betonung liegt aber auf „können“, denn es kommt, wie oft in der Elektrotechnik, auf weitere Faktoren an.
Ausführliche Informationen zu diesem Thema haben wir im Folgenden aufbereitet:
Ein klares Jein! Eine Spannung sagt zunächst einmal nur etwas über einen Potentialunterschied aus. Als Bezugspunkt wird dabei meist die Erde genommen (auch PE = Protected Earth; auch als „Schutzleiter“ in elektrotechnischen Einrichtungen bezeichnet, der grün-gelb markiert ist).
Tatsächlich können wir Menschen uns beim Laufen über einen Teppich oder beim Anziehen eines Wollpullovers problemlos auf mehrere Tausend bis Zehntausend Volt (1.000 Volt = 1 Kilovolt = 1 kV) aufladen. Berühren wir anschließend eine Person oder einen Gegenstand mit einem niedrigeren Potential (z. B. ein geerdetes Geländer oder eine Heizung), entlädt sich die Ladungsmenge, die wir über die Textilien aufgenommen haben. Es fließt kurzzeitig ein elektrischer Strom. Die Ladungsmenge ist aber so gering, dass wir sie zwar spüren können, sie jedoch völlig ungefährlich ist. Nach dieser kurzen Entladung bricht diese Spannung sofort zusammen und wir befinden uns wieder auf einem Spannungsniveau nahe Null. Wir sind geerdet.
Anders ist es natürlich, wenn man eine Mittel- oder Hochspannungsspannungsleitung berühren würde. Auch hier beträgt das Spannungspotential gegenüber Erde mehrere Zehntausend (typischerweise 10 bis 30 kV = Mittelspannung) bis über Hunderttausend Volt (110 kV = Hochspannung). Da die Ladungsmenge, sprich der elektrische Strom, auf diesen Leitungen viel, viel höher ist, würde eine Berührung sofort tödlich enden. Dabei ist jedoch nicht die Spannung das Problem, sondern der Strom, der durch uns fließen würde.
Da die von Nextmove gemessenen bis zu 150 Volt auf keine stabile Strom- bzw. Spannungsversorgung zurückzuführen sind, handelt es sich hier um eine zwar spürbare, aber dennoch ungefährliche Spannung, die direkt nach der Berührung zusammenbricht und uns daher nicht verletzen kann.
Grundsätzlich gilt, dass von einer höheren Spannung ein höheres Gefahrenpotential ausgeht, weshalb Anlagen oder Gegenstände mit höheren Spannungen auch höhere Sicherheitsvorkehrungen gegen elektrischen Schlag aufweisen müssen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Strom- oder Spanungsquelle eine nennenswerte Strommenge bzw. Ladungsmenge liefern kann (wie etwa eine Hochvolt-Batterie).
Bei Fahrzeugen unterscheidet man daher zwei Spannungsbereiche: Niedervolt und Hochvolt. Der Niedervoltbereich erstreckt sich bis 60 Volt Gleichspannung und 30 Volt Wechselspannung, darüber beginnt der Hochvoltbereich, der bis 1.500 Volt Gleichspannung und 1.000 Volt Wechselspannung reicht. Für Hochvoltkomponenten gelten deutlich höhere Sicherheitsanforderungen.
Das hängt von der Höhe des Stroms und der Einwirkdauer auf den menschlichen Körper ab. Für unser Wechselstromnetz mit 230 Volt Spannung gibt es dazu einige Richtwerte (siehe Grafik, Quelle: Fachkunde Elektrotechnik, Verlag Europa-Lehrmittel, 25. Auflage, 2006). Auf diese wird auch im Nextmove-Video hingewiesen. Je höher der Strom ist, der durch den Körper fließt, und je länger dieser auf den Körper einwirkt, desto gefährlicher ist er. Die Messungen von Nextmove ergaben Spitzenströme von maximal zwei Milliampere (mA). Laut dieser Skala befindet sich dieser Strom, unabhängig von seiner Einwirkdauer, im ungefährlichen Bereich.
Übrigens lösen FI-Schalter, die Teil moderner Hausnetzinstallationen sind, bei 30 mA Wechselstrom aus. Sie stellen sicher, dass keine gefährliche Körperdurchströmung droht, wenn man einen elektrischen Leiter im Hausnetz berührt.
Nein. Die Messungen von Nextmove beziehen sich ausschließlich auf ungeerdete Steckdosen. Dass Steckdosen geerdet werden müssen, ist seit Jahrzehnten Vorschrift in Deutschland und Österreich. Grundsätzlich existiert ein höheres Gefahrenpotential bei sehr, sehr alten oder unsachgemäßen Hausnetzinstallationen oder auch im Ausland, wo der Anschluss eines Schutzleiters an Steckdosen nicht zwingend vorgeschrieben ist. Das gilt jedoch für den Betrieb jeglicher elektrischer Geräte an solchen Steckdosen bzw. Installationen.
Um das genau nachvollziehen zu können, müsste man mit aufwendigeren Messgeräten unter Laborbedingungen die Strompfade nachvollziehen, weshalb wir hier nur eine erste Abschätzung geben können.
Die gemessenen Ströme und Spannungen sind wahrscheinlich auf die Entladung sogenannter Y-Kondensatoren zurückzuführen. Diese sind Bestandteil moderner Netzteile (und damit auch On-Board-Lader) und verbessern die elektromagnetische Verträglichkeit (= EMV). Das bedeutet, dass diese Y-Kondensatoren kleine Störungen aus dem Stromnetz filtern und sie können bzw. dürfen nur sehr kleine Ladungsmengen aufnehmen. Die Y-Kondensatoren sind zwischen den spannungsführenden Teilen des Netzteils und der Fahrzeugerde (bzw. Fahrzeugmasse) geschaltet. Die Fahrzeugmasse ist die Karosserie, also auch der Heckklappenhaken, der im Nextmove-Video gezeigt wird.
Üblicherweise würde sich dieses Potential auf der Fahrzeugmasse nun über die Erdung der Steckdose entladen. Es findet ein Potentialausgleich statt. Fehlt jedoch der Erdungsanschluss (Schutzleiter), kann sich die Ladungsmenge im Y-Kondensator nicht bzw. nur langsam abbauen. Berührt man nun als Mensch einen Teil der Karosserie und steht dabei gut leitend auf der Erde (wie im Video beschrieben mit nackten Füßen auf nassem Boden), entladen sich die Y-Kondensatoren über die Person. Was dramatisch klingt, ist aber, wie bereits beschrieben, zumindest für gesunde Menschen völlig ungefährlich, da der Strom bzw. die Ladungsmenge, die auf den Körper einwirkt, viel zu gering ist, um gefährlich zu werden. Wie es bei Personen mit Herzschrittmacher aussieht, können wir an dieser Stelle nicht genau abschließend klären.
Doch, das gibt es trotzdem und wird in dem Video auch deutlich dargestellt. Denn nicht alle getesteten ICCBs (In-Cable Control Box, auch bekannt als „Ladeziegel“) zeigen an, dass an einer nicht geerdeten Steckdose geladen wird. Bei der ICCB von Audi beispielsweise kann man die Überprüfung auf eine geerdete Steckdose deaktivieren, dann sollte man sich aber sicher sein, wie und an welcher Steckdose man lädt. Andere ICCB zeigen gar keinen Fehler an, was auf einen Auslegungsfehler dieser ICCBs hindeutet.
Die Überschrift des Videos und der Pressemeldung lesen sich dramatischer, als sie es am Ende sind. Die geschilderten Entladungen oder „Stromschläge“ sind nicht gefährlich für den gesunden, menschlichen Körper. Sie können auch bei anderen Elektrogeräten auftreten, die an nicht geerdete Steckdosen angeschlossen werden, die seit Jahrzehnten in Deutschland und Österreich nicht mehr erlaubt sind.
Schön ist der Effekt natürlich trotzdem nicht, da es verständlicherweise bei unbedarften Benutzerinnen und Benutzern für Unsicherheit sorgen kann, wenn man einen elektrischen Schlag beim Berühren eines E-Autos fühlt – auch wenn dieser ungefährlich ist.
Um dem vorzubeugen, wäre es hilfreich, wenn einerseits die ICCBs das Laden an ungeerdeten Steckdosen unterbinden oder nur gegen ausdrückliche Bestätigung des Nutzers ermöglichen würden. Anderseits wäre es begrüßenswert, wenn sie sich die gemessenen Spannungen durch weitere konstruktive Maßnahmen vermeiden ließen.
Weitere Details und Rückmeldungen der Autohersteller möchte Nextmove am kommenden Freitag, den 29.10.2021, auf ihrem Youtube-Kanal veröffentlichen.
Abbildungen und Fotos: Audi, Verlag Europa-Lehrmittel, M. Zacher
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