Erste Fahrt im Mercedes EQS

16.04.2021 von Thomas Geiger

Der neue Fixstern am Firmament

Der Mercedes EQS soll nichts weniger als die S-Klasse unter den Elektroautos sein. Mit einer Reichweite von deutlich über 700 Kilometern und ultrakurzen Ladezeiten soll der EQS neue Maßstäbe setzen. Ob das gelingen kann, konnten wir bei einer ersten Mitfahrt im neuen Fixstern klären.

03.04.2021/16.04.2021 – Über dem Stuttgarter Nachthimmel geht ein neuer Fixstern auf. Denn wenn Mercedes diesen Sommer den EQS an den Start bringt, wollen sich die Schwaben an die Spitze der elektrischen Revolution setzen und nicht nur Porsche Taycan und Audi e-tron GT die Stirn bieten, sondern endlich auch Tesla in die Parade fahren. Kein Wunder also, dass sie in Stuttgart nicht an Vorschusslorbeeren sparen und stolz vom Beginn einer neuen Ära sprechen.

Das liegt zum einen an der Rolle des EQS als elektrischem Flaggschiff und Technologieträger auf dem Niveau der S-Klasse, aber vor allem auch am Konzept. Schließlich mussten die Schwaben für ihren Erstling EQC und den darauffolgenden EQA als eher halbherzige Übernahmen aus der alten Welt viel Kritik einstecken. Beim EQS bauen sie hingegen nun zum ersten Mal auf einer dezidierten Elektro-Plattform mit der typischen Skateboard-Architektur auf, wie sie auch VW für den MEB und Tesla als Basis seiner Modelle gewählt hat.

Neue Elektroautoplattform EVA2

Diese Plattform nennt sich Electric Vehicle Architecture 2 (EVA2) und ist flexibel in Radstand und Batteriegröße, kann sowohl mit einer E-Maschine für reinen Heckantrieb als auch mit zwei Elektromotoren für Allrad-Traktion bestückt werden. Auf dieser Plattform soll im Laufe des Jahres noch eine elektrische Alternative zur E-Klasse namens EQE folgen, sowie zwei große SUV (EQE SUV und EQS SUV), die nächstes Jahre ihre Premiere feiern.

Im EQS führt die EVA-Plattform bei 5,21 Metern Länge zu stolzen 3,21 Meter Radstand, einer Batteriekapazität von bis zu 107,8 kWh netto für eine WLTP-Reichweite von 770 Kilometern. Die Elektromotoren leisten über 385 kW und an der Schnellladesäule sollen nur 15 Minuten für 300 Kilometer eingeplant werden müssen.

Designer-Stück mit großer Klappe

Gekleidet ist die elektrische S-Klasse in eine Designer-Robe, die so ziemlich mit allem bricht, was man bislang in der Oberklasse kannte. Denn statt in einer traditionellen Stufe gezeichnet, fährt der EQS mit einem einzigen Bogen vor. Das sieht in der Serie aufgrund des höheren Dachs und des kürzeren Hecks zwar nicht ganz so elegant aus wie bei der Studie von 2019, doch es fällt auf. Und vor allem bietet der EQS so dem Wind minimalen Widerstand: Nur 0,20 misst der cW-Wert und stempelt das elektrische Flaggschiff zum schnittigsten Serienauto der Welt.

Angenehmer Nebeneffekt des unkonventionellen One-Bow-Designs: Während die Hinterbänkler vom riesigen Radstand und den kurzen Überhängen profitieren und enorme Beinfreiheit genießen, freuen sich auch die Lademeister. Mit einer Kofferraumklappe bis ins Dach und einer umklappbaren Rückbank bietet der EQS zwischen 610 und 1.770 Liter Stauraum und wird so zum ersten Mitglied der S-Klasse-Familie, mit dem man sich auch an der Warenausgabe von Ikea blicken lassen kann. Dafür opfern die Schwaben dann auch bereitwillig den Frunk im Bug und nutzen den Platz lieber für einen raumgreifenden Hepa-Filter, mit dem sie den EQS-Fahrern die sauberste Luft versprechen, die es bis dato in einem Auto gegeben hat. Selbst Corona-Viren bleiben so angeblich draußen.

Fast ein Maybach: Reisen wie auf Wolken

Auch wenn die – natürlich digitale – Weltpremiere noch aussteht, bittet Chefingenieur Christoph Starzynski schon zu einer ersten Mitfahrt rund um Stuttgart und sein Kollege Oliver Röcker zeigt stolz, was die Luxuslimousine alles draufhaut. Der EQS überrascht dabei weniger mit seinem spontanen Antritt, der trotz über 2,5 Tonnen einen Sprintwert nur 4,3 Sekunden ermöglicht und damit mühelos in AMG-Sphären vordringt, sondern viel eher mit einem Maß an Fahrkultur, wie es bislang allenfalls die Maybach-Versionen der S-Klasse geboten haben.

Wer erst einmal den künstlichen Raumschiff-Sound oder das imitierte V8-Grummeln deaktiviert hat, reist in absoluter Stille. Weil der Wind so wenig Widerstand findet und sämtliche Antriebskomponenten noch einmal umschäumt wurden, wird man eher die Digitaluhr ticken hören, als dass ein Fahrgeräusch an die Ohren dringt. Und weil es natürlich serienmäßig eine Luftfederung gibt, wähnt man sich wie auf Wolken gebettet. So bekommt das Reisen eine neue Leichtigkeit.

Eine Reku, die mitdenkt

Leicht will es Mercedes dem Fahrer mit einem intelligenten Rekuperationsprogramm machen, das auf schlaue Art zum Verzicht auf das Bremspedal erzieht. Denn mit den Sensoren der automatischen Abstandregelung und den Daten zum vorausliegenden Streckabschnitt nutzt der EQS die E-Maschine genau in so einem Maß als Generator und damit als Bremse, dass die hydraulische Bremse weitgehend überflüssig wird. Und während der EQS sich für die Insassen nach einem riesigen Auto anfühlt, macht er sich für den Fahrer klein: „Wie in der S-Klasse haben wir die neue Hinterradlenkung verbaut und schlagen die Räder beim Rangieren um mehr als zehn Grad ein“, sagt Röcker und kreiselt mit dem Fünf-Meter-Auto durch die Stadt, als wäre es ein Kleinwagen.

Highlight im Cockpit: der 1,41 Meter breite Hyperscreen

Neben der absoluten Stille an Bord, der Seriosität und der Souveränität, beeindruckt der EQS zudem mit seinem Ambiente. Denn mit dem neuen Hyperscreen stellen die Schwaben so ziemlich alles in den Schatten, was es bis dato an Infotainment gegeben hat. Der erste Blick auf die gebogene Glasfläche, die sich von Tür zu Tür spannt, ist mindestens so eindrucksvoll wie das Debüt von MBUX in der A-Klasse. Und wenn darunter die drei Bildschirme aufflammen, ist das ganz großes Kino.

Das merkt man auch schon als Beifahrer. Denn selbst wenn einem der Blick in das von der S-Klasse bekannte XXL-Head-Up-Display mit Augmented-Reality-Projektionen verwehrt bleibt, flimmert dafür jetzt vor den Knien ein eigener Bildschirm. Und es ist nicht die Größe der drei Screens allein und die Brillanz der Grafiken, mit denen der Hyperscreen beeindrucken will. Um die Bedienung radikal zu vereinfachen und die Menüebenen zu reduzieren, bekommt das bekannte MBUX-System reichlich künstliche Intelligenz und eine wissbegierige Beobachtungsgabe: Mit jedem Kilometer lernt das System die Vorlieben, Gewohnheiten und Routinen von bis zu sieben Fahrern genauer kennen und schlägt je nach Anlass automatisch bestimmte Bedienschritte vor. Deshalb sind wie von Zauberhand immer genau jene Menüpunkte auf den Bildschirmen, die man gerade nutzen möchte, versprechen die Entwickler.

Die S-Klasse unter den Elektroautos

Fahrkomfort auf höchstem Niveau, dazu eine Interpretation von Luxus, die eher trendig ist als traditionell, die aktuell größte Batterie und mit ihr die beste Reichweite am Markt, sowie obendrein ein Infotainment wie aus einer anderen Welt – so wird der EQS tatsächlich zum neuen Leitstern unter den Oberklasse-Stromern. Zudem werden die Schwaben die gesamte S-Klasse-Klaviatur aufspielen und dem EQS auch wieder eine AMG- und eine Maybach-Variante zur Seite stellen.

Schwellenängste lässt Mercedes beim Umstieg in die neue Zeit übrigens gar nicht erst aufkommen. Nicht nur der überraschend niedrige Grundpreis von weniger als 100.000 Euro dürfte für die S-Klasse-Klientel keine allzu große Hürde sein. Und um auch Skeptikern selbst noch die letzten Zweifel zu nehmen, zeigt sich der EQS einladender als jeder andere Mercedes: Denn kaum nähert man sich der Limousine an, schwingen die großen Türen wie von Geisterhand automatisch auf und heißen die Kunden in der neuen Welt Willkommen.

Fotos: Mercedes-Benz

Korrektur - 03.04.2021, 16:00:

In einer ursprünglichen Version des Artikels hieß es, dass der EQS mit einer 800-Volt-Technologie ausgerüstet wird. In der inzwischen vorliegenden Pressemeldung ist jedoch ausdrücklich von einer 400-Volt-Architektur die Rede. Der Absatz wurde entsprechend korrigiert.

Update 1 - 03.04.2021, 16:15:

Die technischen Daten wurden aktualisiert.

Update 2 - 16.04.2021:

Nach der Vorstellung des Serienfahrzeugs wurden die technischen Daten und die Bilder aktualisiert.

Technische Daten
Fahrzeugbezeichnung: Mercedes-Benz EQS 450+ Mercedes-Benz EQS 580 4MATIC
Fahrzeugbeschreibung: fünftürige, fünfsitzige Oberklasse-Limousine
ANTRIEB
Bauart: permanenterregte Synchronmaschine an HA, Hinterradantrieb je 1 permanenterregte Synchronmaschine an VA und HA, Allradantrieb
Leistung: 245 kW 385 kW
Drehmoment: 568 Nm 855 Nm
BATTERIE & LADESTANDARD
Energieinhalt (netto): 107,8 kWh
Batteriegarantie: 10 Jahre oder 250.000 Kilometer (SOH: > 70 %)
Wärmemanagement: Flüssig-Thermalmanagement
Ladestandard AC: Typ 2 11 kW 3p (opt. 22 kW 3p)
Ladestandard DC: CCS 200 kW
Ladezeit AC 22-kW-Ladestation 10-100 %: 10 h (5 h mit 22-kW-Lader)
Ladezeit DC 350-kW-Ladestation 10-80 %: 31 min
FAHRLEISTUNGEN
Höchstgeschwindigkeit: 210 km/h 210 km/h (AMG bis 250 km/h)
Beschleunigung (0-100 km/h): 6,2 s 4,3 s (AMG: < 4 s)
REICHWEITE & VERBRAUCH
NEFZ: N/A N/A
EPA: N/A N/A
WLTP: 770 km N/A
Verbrauch (NEFZ): 19,1-16,0 kWh/100 km 20,0-16,9 kWh/100 km
Verbrauch (WLTP): 20,4-15,7 kWh/100 km 21,8-17,4 kWh/100 km
ABMESSUNGEN & GEWICHT
Länge x Breite (ohne Spiegel) x Höhe: 5,216 m x 1,926 m x 1,512 m
Breite (mit Spiegel): 2,125 m
Radstand: 3,210 m
Gepäckraum: 610-1.770 l
Frunk: - -
Leergewicht: 2.480 kg 2.585 kg
cW-Wert: 0,20
cW x A: 0,502 m²
PREIS & VERFÜGBARKEIT
Verkaufsstart: Verkaufsstart: Juni 2021
Deutschland: N/A N/A
Österreich: N/A N/A
  1. Daniel sagt:

    Das ist mal wirklich ein mutiges und innovatives E-Fzg. Konzept. Sehr gelungen vom Design her – ich bin gespannt auf die Weltpremiere 🙂

  2. Peter Schmitt sagt:

    Warum ein solches Loblied auf ein solches Dickschiff?? Wir fahren morgen elektrisch mit den Mitteln von Vorgestern – zu schwer, zu groß, zu hoher Verbrauch, einfach ressourcenfressend? Wo ist die Effizienz? Und in punkto Effizienz, geschweige denn Software kann sich der Wagen immer noch nicht mit Tesla messen. Wie schnell (langsam?) lädt der Wagen denn nun wirklich? Was verbraucht er denn nun wirklich – die angegebenen 20-16,9 kWh sollten ein Witz sein bei der Gewichtsklasse (siehe eTron), da wird der gute cw-Wert nicht viel helfen können. Warum solch überflüssige Anmerkungen wie „der überraschend niedrige Grundpreis von weniger als 100.000 Euro“?

  3. Stefan Balz sagt:

    Mit 2.500 Tonnen Leergewicht ein ziemlich fetter neuer Fixstern. Kenne grad niemand der so was sucht. Bin gespannt auf die gemessenen Verbrauchswerte. Gehe mal von 23 bis 28 kWh/100 km aus. Die Reichweite liegt dann bei wohl um die 500 km max.

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